Kommentar eines Ungläubigen

zur Massenhysterie anlässlich des Datums 2012


spirit0210_100Wenn Kalendergläubigkeit zur Massenhysterie ausartet, so wie bei der Jahrtausendwende und jetzt wieder anlässlich 2012, dann haben wir da ein Problem, meint Wolf Schneider, der Herausgeber der Zeitschrift connection Spirit, der diesem Thema in seiner Februarausgabe gerade die Titelstory gewidmet hat. (Bestellbar unter diesem Link)


Viele Kulturen haben Endzeiterwartungen. Wissenschaftlich heißen diese »Eschatologien«, die »Lehren von den letzten Dingen«. Insbesondere die drei westlichen Monotheismen haben solche Vorstellungen, darunter am ausgeprägtesten das Christentum. Aber auch die prächristlichen nordischen Kulturen hatten solche Vorstellungen, in Mittelamerika die Maya, Tolteken und Azteken sowie weltweit viele Stammeskulturen. Was dabei häufig vorkommt, ist der Mythos einer glücklichen Urzeit (Paradies) und einer glücklichen Endzeit (Paradies, Himmel), vor der jedoch eine große Katastrophe steht. Weil wir Menschen offenbar so denken und fühlen, gehört es seit langem zu den Regeln der Drehbuchschreiber unserer Filme (nicht nur aus Hollywood), vor dem Happy End eine große Katastrophe einzubauen, bei der nochmal alles auf die Spitze getrieben wird und alles auseinander zu fallen droht. Da müssen der Held oder die Heldin sich bewähren und über sich selbst hinauswachsen. Dies ist der Höhepunkt des Dramas, der oft als Kampf gegen Gut und Böse inszeniert wird.

Vielleicht sind unsere politischen und religiösen Dramen nur Inszenierungen in der Außenwelt, gesteuert und motiviert von dieser dramatischen Disposition des Menschen.


Strafe des Herrn?

Eine christliche Spezialität unter den Endzeitmythen ist der Glaube an ein Millennium, ein tausendjähriges Reich. Sogar die Nazis haben diesen Mythos aufgegriffen. Viele sahen diese Zeit mit der Geburt oder dem Tod des Jesus von Nazareth beginnen. Als das Ende dann aber nicht kam und auch zu den verschobenen Terminen immer wieder nicht kam (auch Luther prophezeite zu seinen Lebzeiten drei Mal ein Ende der Welt), verlegten sich viele Christen auf die Erwartung eines Endes ohne bestimmten Zeitpunkt (»Nur Gott weiß, wann es passiert«). Für viele bibelgläubige Bewegungen, wie etwa auch die Zeugen Jehovas, ist das nahe Ende jedoch eine mächtige emotionale Realität. Dementsprechend neigen sie dazu, die heute weit verbreiteten Ankündigungen ökologischer Katastrophen religiös zu interpretieren als Strafe Gottes. Manchmal reicht schon ein Tsunami oder ein Erdbeben für das Gefühl: Es ist soweit! Nun kommt die Strafe des Herrn über uns.


Kalendergläubigkeit

Kalender gibt es vermutlich schon seit der Altsteinzeit. Sie richteten sich nach den Rhythmen der Natur: Tag und Nacht, Frühling und Sommer, und den Phasen des Mondes. Nach ihnen feierten die Menschen ihre Feste. Teils säten und ernteten sie auch danach oder legten Vorräte an für den Winter oder die Trockenzeit.

Der heute weltweit übliche Kalender ist der gregorianische. Er wurde im 16. Jahrhundert von Papst Gregor XIII. eingeführt und löste weitgehend den julianischen Kalender ab. Die islamischen, hinduistischen und buddhistischen Kulturen hatten jedoch andere Kalender, ebenso die chinesische Kultur. Teilweise werden diese heute noch angewandt. Gemäß diesen Kalendern sind die Jahreszahlen ganz andere als bei uns, entsprechend auch die Neujahrstermine.

Neuerdings feiert die NewAge- und Esoterik-Szene besonders den Maya-Kalender. Er bietet ein Datum an, das nicht mehr lang hin ist – man kann ja nicht ewig auf das goldene Zeitalter warten bzw. auf die Katastrophe. Außerdem ist es ein »großes« Datum, mit vielen Nullen in der Jahreszahl. Außerdem ist die Maya-Kultur eine komplexe und ebenso ihr Kalender, er lässt auch ausgefuchste Analysen, Prognosen und Vergleiche zu, so wie die westliche Astrologie. Und schließlich sind die Maya eine indianische Kultur – spätestens seit Karl May (auch er eigentlich ein May-a?) sind die für uns was ganz Besonderes.


Natürliche und künstliche Rhythmen

Die Einzelheiten dieser Kalender zu verstehen, das ist ein Studium für sich. Ich will hier auf etwas viel Allgemeineres eingehen: auf den Unterschied zwischen den Zeitpunkten, die von den jeweils gerade gültigen Kalendern festgelegt werden, und denen der natürlichen Rhythmen. Die Wintersonnenwende ist ein ganz bestimmter Tag innerhalb des Jahreszyklus, egal, ob im Lande gerade der julianische, gregorianische oder islamische Kalender gilt. Der Tag (oder die Nacht) der Wintersonnenwende ist für uns alle auf der nördlichen Halbkugel derselbe, ab da werden die Tage wieder länger. Ebenso ist der Sonnenhöchststand zur Mittagszeit und der davon bestimmte Tages- und Nachtrhythmus ein natürlicher – mit der jeweils als Standard festgelegten Uhrzeit (hier: MEZ) hat er nicht viel zu tun. Wenn ich mich mit jemand verabreden will, brauche ich eine Uhrzeit und einen Kalendertag, dafür sind diese Kalender sehr nützlich. Aber die von ihnen bestimmten Zeitpunkte sind keine natürlichen, sondern künstliche, kulturell bestimmte. Sie werden von Menschen festgelegt und gelten nur innerhalb eines Kulturraums.


Kalendarische Massenhysterien

Wenn ich nun zu Silvester ein besonders feierliches Gefühl habe, dann ist das ein Ergebnis einer solchen Vereinbarung und auch von der Tatsache, dass Massen anderer Menschen sich ebenso auf diesen Zeitpunkt ausrichten und dazu massenhaft ähnlich feierliche Gefühle haben. Neujahrsfeste sind, so wie auch etwa das Ende des Ramadan im islamischen Kulturraum, eine Art künstlich erzeugte Massenhysterie. Weil alle dasselbe glauben und dasselbe Datum im Kopf haben, glauben alle, dass zu diesem Zeitpunkt ein »Übergang« in etwas ganz Neues geschieht. »Man merkt das doch! Fühlst du das nicht auch?« Ja, ich fühle das auch, weil alle das so fühlen.

In Andersens Märchen hat der Kaiser neue Kleider an, weil alle das so fühlen. Siehst du das nicht auch? Es ist eine Erfahrungstatsache! Bis ein Kind ruft: Er hat doch gar nichts an! Und alle beginnen zu lachen.

Wenn die Astronomen und Kalendermacher sich verrechnen (ja, das gibt es), dann ist der Zeitpunkt dieser großen Gefühle ein ganz anderer. Das meine ich mit »künstlich«. Der Kalender ist ein Tages- und Stundenraster, das wir auf die Wirklichkeit drauflegen, um uns besser darin orientieren zu können. Es ist nicht die Wirklichkeit selbst. Hätten die Maya ihren Kalender zu einem anderen Zeitpunkt beginnen lassen, würde er auch zu einem anderen enden, und wir hätten die Hysterie der Eso-Szene nicht gerade 2012.

Die in unserer Kultur aufgewachsenen Menschen sind uhrzeit- und kalendergläubig. Entsprechend sagt ein altes afrikanisches Sprichwort: »Euch Europäern hat Gott die Uhr gegeben. Uns hat er dafür die Zeit gegeben.« Die Zeit ist das Echtere, Wirklichere. Die Uhren und Kalender zeigen nur Fiktionen an. Ich wünsche uns allen in diesem Sinn mehr afrikanisches Bewusstsein: weniger Uhr, mehr Zeit; weniger Kalenderglauben, mehr Gefühl für die natürlichen Rhythmen.  


Apokalypsen und andere Trickkunstwerke

Der Krimiautor (»King of Horror«) Stephen King sagte kürzlich über die Hysterie zur Schweinegrippe: »Ich fühle mich manchmal, als erlebten wir eine Szene aus meinen Büchern«, und: »Wir haben eine apokalyptische Mentalität, und die Medien verstärken diesen Trend.« Der Film »2012« von Roland Emmerich nutzt diese Mentalität und Stimmung und macht daraus einen Film, der ein geniales Trickkunstwerk ist. Genau genommen sind aber auch alle Kalender Trickkunstwerke. Als solche können sie sehr nützlich, ja, für unsere heutige Kommunikation, Wirtschaft und Gesellschaft unentbehrlich sein.

Man sollte dabei jedoch nie den Unterschied zwischen diesen künstlichen Realitäten und der natürlichen, echten Realität vergessen. Silvester 1999, 24 Uhr, ist ein künstliches Datum. Echt war daran nur, dass Massen von Menschen daran glaubten, und dass unsere Computer dann auf eine neue, vierstellige Jahreszahl umspringen mussten. Ebenso ist auch der 21. 12. 2012 nicht echt – und dann müssen nicht einmal die Computer umspringen. Also: Entwarnung!


Beunruhigende Ökoprognosen

Was mich mehr besorgt als diese religiösen Hysterien, so gefährlich die in ihren Exzessen auch sein können, ist die Entwicklung unseres Biotops unter dem Druck der anwachsenden menschlichen Weltbevölkerung mit ihrem so schonungslosen Umgang mit den Ressourcen. Ich greife jetzt mal nur unseren Fleischkonsum heraus und die Industrie, die ihn bedient. Laut World Watch Institut ist die weltweite Fleischproduktion jetzt schon für 51 (!) Prozent der Erderwärmung verantwortlich, wenn man dabei nicht nur den CO2-, sondern auch den Methanausstoß einbezieht und die Abholzung für die Vieh- und Viehfutterwirtschaft. Hierzu noch ein paar weitere Zahlen (alle aus der SZ): 90 Prozent der Amazonas-Rodungen seit 1970 dienen der Schaffung von Weideland. In den nächsten 40 Jahren wird die Weltbevölkerung um ein Drittel steigen, die Nachfrage nach Fleisch aber wird sich verdoppeln. Die Tiere, aus denen wir 2050 unser Fleisch gewinnen werden, benötigen so viel pflanzliche Nahrung wie vier Milliarden Menschen. Dafür gibt es aber nicht mehr genug Land und auch nicht mehr genug Wasser. Ganze Völker und Nationen, vielleicht Kontinente werden verelenden. Und die Meere? Die sind überfischt, und die Jagd nach den Rohstoffen, im Meer und unter dem Meeresboden, auf bisher weitgehend juristisch unreguliertem Terrain, hat dort gerade erst begonnen.


Sind wir das Problem oder die Lösung?

Meiner Beobachtung nach unterliegen die atheistischen Ökos, die auf solche Szenarien hinweisen, der Gefahr einer Endzeithysterie weniger als die Anhänger der theistischen Religionen, bei denen die Idee einer strafenden Gottheit die Angst vor Bestrafung noch verstärkt. Aber auch Atheisten sind dagegen nicht gefeit. Angefangen von den Prognosen des Club of Rome bis zu Al Gores Film »Eine unbequeme Wahrheit« und den heutigen Prognosen zum Aussterben von Tier- und Pflanzenarten, dem Schmelzen der Gletscher und der Zunahme der Verwüstung müssen wir auch unsere Gefühle beobachten, unsere Neigung zu Pessimismus oder Optimismus. Nicht zu vergessen auch den Thrill, den wir bei der Rezeption der solcher Nachrichten erleben, ähnlich dem beim Betrachten eines Horrorfilms. Wo dieser Thrill (Ach, wie schlimm! Gottseidank bin ich nicht dabei!) die Auswahl der täglich konsumierten Nachrichten mitbestimmt, werden solche interaktiv auch generiert, und wir gehören eher mit zum Problem als zu seiner Lösung.


Die Flops der Propheten

Das Erdbeben in Haiti, das gerade eines der ärmsten Länder getroffen und dort vermutlich 200.000 Menschen getötet und mehr als ein Million obdachlos gemacht hat, ist eine Vorschau auf die Katastrophen, die da noch auf uns zukommen können. Kein Maya-Kalender hat dieses Erdbeben vorausgesagt – er müsste doch, was Mittelamerika und die Karibik anbelangt, besonders kompetent sein; von Eurasien und Afrika wussten die Maya-Priester damals ja noch nichts. Und auch die Astrologen haben das nicht vorausgesehen. Die Hellseher und esoterischen Propheten sind eben mehr mit dem Liebesleben unserer Promis, den Fußballergebnissen und zu erwartenden islamistischen Attentaten beschäftigt – und auch dort treffen die Vorhersagen nicht öfter ein als bei einem Zufallsgenerator.


Der fragile Biotop

Vor etwa 74.000 Jahren explodierte auf dem Gebiet des heutigen Sumatra ein Vulkan. In seinem Krater liegt der heutige Tobasee. Möglicherweise hat diese Explosion die Weltbevölkerung des homo sapiens, der damals noch auschließlich in Afrika lebte, bis auf weniger als 10.000 reduziert. Der Vulkanausbruch war jedenfalls Auslöser einer mehrjährigen Kälteperiode, der Absturz könnte anfangs mehr als 10 Grad Celsius betragen haben.

Was, wenn der Vulkan nicht drei tausend Kubikkilometer Material ausgespuckt hätte, sondern vier tausend, und von homo sapiens keiner überlebt hätte? Dann könnte sich jetzt auch keiner Gedanken machen über diese Zeit, unsere Überlebenschancen, den fragilen Biotop, der uns erhält, die Kulturgeschichte der Menschheit, die noch immer fortschreitende Zunahme der Weltbevölkerung des homo sapiens auf nun bald mehr als sieben Milliarden, für 2050 werden neun Milliarden vorausgesagt. Das System, das uns trägt, ist fragil. Ein einziger Vulkanausbruch kann es auslöschen – umso mehr ein vom Menschen ausgelöster Atomkrieg, oder die weitere Vermüllung des Planeten, oder die Verknappung einer einzigen lebenswichtigen Ressource (z.B. Trinkwasser), die zu vernichtenden Kriegen führt.


Sein und Bewusstsein

Das Besondere am Menschen ist wohl das Bewusstsein und die Möglichkeit der starken kulturellen Prägung. Auch (andere) Tiere haben das, aber nicht in so hohem Maße. Wir sollten uns dieser Besonderheit bewusst (!) sein, aber dabei nicht unsere Wurzeln vergessen – dass wir Tiere sind. Mit der Stammesgeschichte ist es so ähnlich wie mit der eigenen Biografie: Ich habe Eltern, eine Herkunft, bin ein Kind gewesen, und nun bin ich erwachsen und habe – vielleicht – eine Zukunft. (An die Spiris: Alles das geschieht im Hier&Jetzt, in der ewigen Gegenwart, Eckart Tolle & Co lassen grüßen). So ist es auch mit der Menschheit. Unsere Herkunft liegt bei den Tieren – wir sind Tiere (deshalb übrigens, meine ich, sollten wir unsere Verwandten nicht essen). Und unsere Zukunft? Mal sehen, ob wir eine haben. Das hängt von unserem Bewusstsein ab.

Und da, wie schon Marx sagte, das Sein das Bewusstsein bestimmt (und nicht nur das Bewusstsein das Sein), hängt diese Zukunft auch von der ökonomischen und technischen Entwicklung ab und davon, wie wir mit Katastrophen wie dem Erdbeben von Haiti umgehen und den vielen weiteren, die da noch kommen werden. Und davon, ob es eine transkulturelle, transreligiöse Ethik geben wird und eine echte Weltdemokratie (die UNO ist weit davon entfernt). Ob die Abschaffung des Militärs gelingt und die Erschaffung einer korruptionsfreien Weltjustiz, die imstande ist, ein Gewaltmonopol durchzusetzen. 2012 ist eine Fiktion, die sich zu einer realen Massenhysterie auswachsen könnte, vermutlich aber subkulturell beschränkt bleiben wird, ein Sturm in der Pfütze, kein großes Weltphänomen. Die ökologischen Prognosen aber sprechen von Realitäten viel substanziellerer Art als das, was die Launen der Apokalyptiker zur Zeit gerade produzieren.


Mehr dazu im aktuellen Schwerpunkt von connection Spirit, die Ausgabe vom Februar 2010, oder auf www.connection.de


Und hier die Bücher für die Katastrophenfans:

José Argüelles: Der Maya-Faktor, Monika Bender Verlag, Juli 2001, HC, 210 S. 24 €

Tibor Zelikovics, Zeitenwende 2012 – Globale Transformation. Das Erwachen der Menschheit. Der Beginn des Goldenen Zeitalters, Hans Nietzsch Verlag, März 2008, HC, 349 S. 22.90 €

Gregg Braden, Fractal Time – Das Geheimnis von 2012 und wie ein neues Zeitalter beginnt, Koha Verlag, Mai 2009, HC, 286 S., 16.95 €

Dieter Broers, (R)evolution 2012, Scorpio Verlag im Herbst 2009, 320 S. HC, 19.95 €.


Wolf Schneider, Jg. 1952, Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie (1971-75). Hrsg. der Zeitschrift connection seit 1985. 2005 Gründung der »Schule der Kommunikation«. Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Blog: www.schreibkunst.com









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